Predigt

Gnade sein mit euch, Friede von dem, der da war, der da ist und der da sein wird, Amen.

 

Hier war der Ort Immerath, hier stand sein Dom. Die Menschen, die ihn kannten, sagen, es war eine beeindruckende, schöne Kirche mit den hohen Doppeltürmen. Sie war markantes Zeichen der Region, eine Landmarke, die den Reisenden versprach: Bald seid ihr zu Hause.

 

Dieses „zu Hause“, die Heimat, gibt es nicht mehr. Der Ort Immerath wurde zerstört, die Menschen mussten fortgehen – die Lebenden und auch die Toten, die auf dem Friedhof begraben wurden. Ihre Totenruhe wurde gestört, sie wurden in fremder Erde neu bestattet. Von der Heimat, dem Ort, den Straßen und Wegen, der Landschaft, ist nichts geblieben – Erinnerungen an vertraute Plätze existieren nur noch im Gedächtnis der Menschen und auf Bildern.

 

Im Immerather Dom kamen die Menschen zu den Gottesdiensten zusammen, zur Feier von Erstkommunion und Hochzeit – und um von ihren Verstorbenen Abschied zu nehmen. Er war sichtbares Zeichen von Gemeinschaft.

 

Am Vorabend seines Abrisses kamen die Menschen noch einmal hier zusammen, viele von ihnen blieben und hielten Nachtwache. Die Bilder seiner brutalen Zerstörung waren für viele traumatisch – und sind es noch heute. Es gab keine Möglichkeit mehr, sie vor Ort und in Gemeinschaft aufzuarbeiten. Deshalb sind wir heute hier, dem möchten wir Raum geben. Deshalb richten wir dieses Kreuz auf als Zeichen der Erinnerung und Mahnung an sinnlose Zerstörung.

 

 

Auch der Prophet Ezechiel, dessen Worte wir hörten, musste in seiner Zeit Gewalt und Zerstörung erfahren. Im Jahr 597 v. Chr. erlebte er die Zerstörung Jerusalems und des Tempels – dem heiligen Ort der Israeliten, dem Ort, an dem ihr Gott in ihrer Mitte war. Es war eine Katastrophe, ein Trauma, das über viele Generationen weitergegeben wurde. Die Menschen verloren ihre Existenz, ihre Heimat war verwüstet, viele wurden nach Babylon ins Exil verschleppt. Mit dem Tempel verloren sie den Ort ihrer religiöse Gemeinschaft und damit ihrer kulturelle Identität.

 

Ezechiel suchte – wie viele andere – eine Antwort auf diese Katastrophe. Denn waren die Israeliten nicht erwählt von ihrem Gott, war ihnen ihr Land nicht von Gott selbst gegeben worden? Die Antwort der Propheten war deutlich: Die göttlichen Gebote waren missachtet, der Bund gebrochen worden: „Und das Wort des Herrn geschah zu mir: Als das Haus Israel in seinem Lande wohnte und es unrein machte mit seinem Wandel und Tun, … ,da schüttete ich meinen Grimm über sie aus um des Blutes willen, das sie im Lande vergossen, und weil sie es unrein gemacht hatten durch ihre Götzen.“ (36,16–18)

 

Diese Worte sind hart – sie sind in Sprache und Vorstellungen des Alten Testamentes und seiner Zeit abgefasst: Der zornige Gott, der die Menschen für die Übertretung seiner Gebote straft. Dieser Gedanke – dieser Tun-Ergehens-Zusammenhang mit ungerechter, weil kollektiver Bestrafung durch einen Gott – ist uns heute weitgehend fremd.

 

Aber wenn wir „Strafe“ weniger als von außen auferlegt denken, sondern mehr als Konsequenz unseres – falschen – Verhaltens, dann beschreiben diese Worte sehr genau unsere heutige Lage: Die Ursache für Zerstörung und Vertreibung liegen in einem Denken und Handeln, das Gewinne – an Geld und Macht – über das Leben, über die Schöpfung stellt. Das widerspricht der göttlichen Ordnung, ist Abwendung von Gott. Die Folgen dieses Handelns trifft uns alle – und dabei vor allem und am härtesten die Menschen, die am wenigsten dazu beigetragen haben, die Menschen des globalen Südens.

 

Doch zeigen die Worte von Ezechiels Schriften auch einen Ausweg, geben Hoffnung auf eine bessere Zukunft: Die Umkehr, weg von den Götzen der Habgier und des Eigennutzes, hin zu Gott und seiner Ordnung.

 

Diese Umkehr predigten die Propheten des Exils, an diese Umkehr banden sie die Hoffnung und das Vertrauen auf eine Heimkehr – nicht nur der Lebenden, sondern auch der Toten: In einer Vision wird Ezechiel in ein Tal voller Totengebeine geführt und der Herr spricht zu ihm: „Du Menschenkind, diese Gebeine sind das ganze Haus Israel. Siehe, jetzt sprechen sie: Unsere Gebeine sind verdorrt, und unsere Hoffnung ist verloren, und es ist aus mit uns. Darum weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der HERR: Siehe, ich will eure Gräber auftun und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern herauf und bringe euch ins Land Israels. Und ich will meinen Odem in euch geben, dass ihr wieder leben sollt, und will euch in euer Land setzen, und ihr sollt erfahren, dass ich der HERR bin.“ (37,11–12;14)

 

Diese große messianische Hoffnung gilt einer größeren Gemeinschaft: den Verstorbenen, den Lebenden und den Ungeborenen. Sie ist Verheißung in die Ewigkeit hinein – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft.

 

Und diese Hoffnung trug, die Exilanten kehrten tatsächlich zurück. Aber Jerusalem lag noch immer in Trümmern, die Menschen hatten nur das Notwendigste zum Leben. Auch der Tempel, das Haus Gottes, war noch immer eine Ruine, verwaist – es gibt keinen Raum für Gemeinschaft, keinen Raum, der über das Alltägliche hinauswies, kein Gestern, keine Zukunft – kurz: kein Raum für die Einwohnung, das Mit-Sein Gottes. Der Prophet Haggai beklagte, dass „ein jeder nur für sich und sein Haus rennt.“

 

Umkehr ist also keine einmalige Entscheidung, sondern eine anhaltende Aufgabe. Haggai drängte daher auf den Wiederaufbau des Tempels – und verkündete gleichzeitig das Versprechen Gottes: „Doch fürchtet euch nicht, ich bin bei euch. Richtet euer Herz auf den Tag der Grundsteinlegung und darüber hinaus. Von diesem Tag an will ich euch segnen.“ (2.5; 2,18–19)

 

Und die Menschen begannen mit dem Wiederaufbau und schufen so den Raum, Größeres, eine andere Zukunft zu denken – und nur zwei Jahre später prophezeite der Prophet Sacharja auch der Stadt – der Gemeinschaft, dem „neuen Jerusalem“ – eine glorreiche Zukunft: Nach Gottes Wille soll sie nicht mehr klein und eng sein, hinter Schutzmauern gedrängt, sondern voller Menschen aus allen Nationen und in seinen Gassen, auf seinen Plätzen sitzen die Alten und die Kinder spielen. Sacharja spricht: „Eine offene Stadt wird Jerusalem bleiben.Und ich selbst werde ringsum eine feurige Mauer sein, spricht der Herr, und ich werde in seiner Mitte sein.“ (2,8)

 

Wenn wir diese Verheißung in unserem Denken und Handeln zulassen, ihr Raum geben, ist sie größer als jede Zerstörung, dann ist sie das Versprechen einer neuen Gemeinschaft, die auf dem Weg zum Reich Gottes ist. Denn Gottes Reich ist nur in Gemeinschaft, in Beziehung zu denken: zu den Anderen, zur Schöpfung.

 

Wenn wir den Bund, dessen Bruch an diesem Ort der Zerstörung so deutlich ist, wieder aufrichten – dann bauen wir den Tempel wieder auf, dann ist Gott wieder in unserer Mitte.

 

Und dann ist das Kreuz nicht nur Zeichen der Erinnerung und der Trauer, sondern ein Zeichen unseres Glaubens an eine andere, bessere Zukunft für alle, an eine veränderte Gesellschaft, die sich am Nächsten orientiert, an ein Leben in Beziehung – und nicht am Profit.

 

Dann ist dieses Kreuz Zeichen der Verheißung des neuen Jerusalems.

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus, unserem Herrn.