Sonntag, 20.3.22: Gottesdienst mit Kreuzaufstellung in Lützerath
Predigt von Katharina Siebert
Hunger ist eine Kriegswaffe. Im Kölner Stadtanzeiger erscheinen seit Neuestem Bericht über drohende Hungersnöte in Folge des Krieges gegen die Ukraine. Denn die Ukraine ist ein wichtiger Produzent von Weizen. Daraus wird Brot, das Grundnahrungsmittel überhaupt. Die Böden der Ukraine sind die fruchtbarsten Europas, noch reichhaltiger als die hier im Rheinischen Braunkohlerevier. Dort etwas zum Blühen zu bringen ist nicht schwer - doch das Bild von der Zukunft ist düster: Es fehlt an Diesel für die Traktoren, die Lieferketten sind unterbrochen, und so fehlt es in der Ukraine an Ersatzteilen für die Maschinen, an Dünger, auch an Pestiziden - und vor allem an Saatgut. Noch können wir säen , sagen die Bauern, es ist ja erst März. Doch wenn wir es nicht bald tun, wird es zu spät sein. Wenn wir nicht säen, werden wir nicht ernten - und eine Hungersnot droht in ganz Europa. Und wir merken bereits: die Preise für Brot und Öl steigen.
Mich erschüttert diese Warnung zutiefst, obwohl ich hinzufügen möchte, dass Deutschland sein Getreide in erster Linie aus Polen importiert und nicht aus der Ukraine. Und die Warnung ist uns ja auch nicht unbekannt: "Wann begreift ihr endlich, dass man Kohle nicht essen kann", steht öfter auf Schildern und Transparenten in Demonstrationen gegen RWE. Denn auch uns werden hier ja die kostbaren Böden weggebaggert. Den Reichen kann das egal sein. 10 Euro für ein Brot brauchen sie nicht zu kümmern. Auch RWE vertraut seelenruhig auf die Getreideproduzenten dieser Welt, es wird sich schon alles finden, der Krieg gegen die Ukraine wird schon aufhören.
Das Thema Essen kommt im Matthäusevangelium öfter vor. Es gibt diese Wundertaten - die Speisung der Fünftausend, der reiche Fischfang, ab und zu wird aus Steinen Brot oder Wasser zu Wein. In diesen Geschichten sorgt Jesus immer irgendwie dafür, dass alle satt werden. Und doch ist es gerade Jesus, der sagt: "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein."1
Diese Geschichte ist sehr interessant und ihr habt sie hier schon einmal gehört. Ihre Botschaft ist, wir sind nicht nur Wesen, die essen und Befehlen gehorchen. Sondern sind auch "mit Vernunft und Gewissen begabt", wie es im Artikel 1 der Menschenrechtscharta heißt. Dies ist ein Akt der Emanzipation. Es lässt uns aufrecht stehen, auch wenn es uns zuweilen eine Menge abfordert.
Demgegenüber steht nun Geschichte von der Speisung der Fünftausend. Sie ist eine Zumutung. Jeder weiß, dass die Menge, die der Einzelne erhält, wenn man ein Brot auf tausend Menschen verteilt, nicht satt machen kann.
Vielleicht ist hier aber etwas ganz anderes gemeint, eine Geisteshaltung, die uns alle noch einmal und vielleicht schon bald sehr beschäftigen, uns allen vonnöten sein wird.
Was nämlich, wenn diese so schöne Idee vom guten Leben für alle in Fülle, diese Geschichte vom Teilen ganz anders gemeint ist? Wenn sie uns sagen will, dass es gar nicht um ein Brot, eine Flasche Öl oder ein Kilo Äpfel geht, sondern um Gemeinschaft, nach dem Motto "Geteiltes Leid ist halbes Leid" und "Geben ist seliger denn Nehmen"? Wenn wir das Wenige, das wir haben, geben können und uns die Gemeinschaft den Hunger ertragen hilft? Es ist der Hunger nach Gemeinschaft, an dem Menschen in Isolationshaft zugrundegehen, nicht umsonst ist Isolationshaft eine Folter. Wenn wir uns öffnen, wenn wir einander, kurz gesagt, geben dürften, was wir auch in der größten Not immer noch haben und annehmen könnten, was ein anderer uns in derselben Not immer noch gibt - nämlich uns allen ein Miteinander- dann wären wir alle in diesem übertragenen Sinne satt, denn dann hätten wir etwas, was wir dem Hunger oder den Reichen entgegenstellen können und was diese nicht kennen: Solidarität. Dann können wir den Blick abwenden von dem, was wir als unsere Armut ansehen und uns dem zuwenden, was wir miteinander teilen, was uns stärkt und was wir sind: Eine Liga und viele!
Als die Aktivistin Winter im September 2018 verhaftet wurde und vor laufender Kamera ein Interview gab, da sagte sie genau das: "Und sie denken wahrscheinlich, sie hätten gewonnen, aber sie können nicht gewinnen. Weil sie den Wald genauso brauchen und diese Erde. Und das einfach nicht verstehen, dass wir nicht für uns kämpfen, sondern für uns alle. (...)Und sie können diesen Kampf hier auch nicht gewinnen, weil draußen so viele Menschen hinter uns stehen. So viele (...)." Da ist nichts mehr klein zu achten oder gering zu werten, und wir könnten uns vielleicht so sehen, wie Jesus es ausdrückt mit seinem "der Mensch lebt nicht vom Brot allein". Aus diesem Grund haben wir zu Beginn dieser Andacht das alte Arbeiterlied von der Liga gesungen. Das Lied stammt aus dem späten 19. Jahrhundert. Und doch hat es von seiner Aktualität nichts verloren. Auch wir werden eine Liga, werden mehr: Wir verankern uns in der Zeit, weil wir aus Liebe zu unseren Kindern handeln, und wir verankern uns im Raum, weil wir aus Verantwortungsgefühl gegenüber unseren Schwestern und Brüdern neben uns handeln, auch wenn sie, wie die Zapatistas, in Südamerika leben. So lasst uns doch wie die fünftausend werden, weil diese Idee uns trägt: Dass fünf Brote uns alle mehr als satt machen. Lasst uns die Gerechtigkeit teilen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, er sei mit uns allen. (1 Mt 4, 1-11)