Sonntag, 6.3.22: Andacht mit Kreuzaufstellung auf dem Kirchhof von Manheim
Predigt von Katharina Siebert
In der Ukraine herrscht Krieg. Und während wir alle nach Osten schauen und uns fürchten, schickt RWE sieben Tage vor Ende der Rodungssaison in aller Ruhe seine Handlanger nach Lützerath. Sie fällen dort Bäume, wie im Bochheimer Wäldchen, zerstören die Natur und nehmen Tieren, die schon angefangen hatten Nester zu bauen, die Heimat. Diese Zerstörung heißt Vorbereitungsarbeiten für die Inanspruchnahme oder Erweiterung des Tagebauvorfelds. Und man braucht wenig Phantasie, um zu erkennen, was da vorbereitet werden soll, nämlich die Räumung Lützeraths und die Zerstörung des guten Lands - egal, welche Moratorien die Gerichte verkünden und die Einhaltung welcher Vereinbarungen sie anmahnen. Hier in Manheim schien dieses bereits Schicksal abgewendet. Doch wieder drehte sich der Wind, wieder hatten die Interessen RWEs Vorrang. Und wir, wie so viele, müssen ohnmächtig zusehen.
"Ach, käme doch endlich einer...!" - so lautet das Motto dieser Andacht. Ach, käme doch einer und nähme die Dinge in die Hand, heißt das, und stellte sie richtig. Aber wer soll das denn sein, wenn die Regierenden allzu oft lügen, die Polizei allzu oft die Falschen schützt und die Richter allzu oft auf den Buchstaben des Gesetzes pochen, aber ihren Sinn nicht verstehen? Das sind die drei Gewalten in unserer Demokratie, und sie versagen. Allesamt. Wir alle wissen sehr genau, dass wir so nicht weitermachen können. Da bin ich wirklich sicher. Wir geben unser Bestes, andere jedoch machen einfach weiter. Sie fahren, um ein Bild von Rezo zu benutzen, den Schulbus, der voll ist mit unseren und ihren eigenen Kindern, mit voller Geschwindigkeit gegen die Wand. Die einen aus Zynismus und Verachtung, die anderen aus Feigheit oder Faulheit. Sie trauen sich nicht ran. Nicht an die Mächtigen, nicht an die Reichen, nicht an die Aufgabe.
Und wir stehen immer noch da, müde von den vielen Kämpfen, und denken: "Ach, käme doch endlich einer...!" Ja, aber wer soll das denn sein?
In seiner Legende vom "Großinquisitor" erzählt Dostojewski, dass Christus noch einmal auf die Erde zurückkehrt, und zwar in das Sevilla des 16. Jahrhunderts, in die Zeit der Inquisition. Er wandelt durch die Straßen, und das Volk, so erzählt Dostojewski, erkennt ihn sofort:
Die Volksmenge strebt mit unwiderstehlicher Gewalt zu Ihm hin, umringt Ihn, folgt Ihm. Schweigend, mit einem stillen Lächeln unendlichen Mitleids, wandelt Er unter ihnen. Die Sonne der Liebe brennt in seinem Herzen, Strahlen von Licht, Aufklärung und Kraft gehen von seinen Augen aus, ergießen sich auf die Menschen und erschüttern ihre Herzen in Gegenliebe. Er streckt die Hände nach ihnen aus und segnet sie, und von seiner Berührung, ja sogar von der Berührung seines Gewandes geht eine heilende Kraft aus. (...) . Das Volk weint und küßt die Erde, über die Er dahinschreitet. Die Kinder streuen vor Ihm Blumen auf den Weg, singen und rufen ›Hosianna! Das ist Er, das ist Er selbst! Das muß Er sein, niemand anders!‹
Jesus macht dann noch schnell einen Blinden sehen und erweckt ein totes Kind zum Leben - und das Volk schreit und schluchzt vor Staunen und Dankbarkeit. Doch siehe, so fährt Dostojewski fort, genau in diesem Augenblick geht plötzlich der Kardinal-Großinquisitor selbst über den Platz vor dem Dom. Er lässt Jesus verhaften. Und das Volk ist so unterwürfig und so sehr seit Jahrtausenden an Gehorsam gewöhnt, dass es das geschehen lässt, obwohl es doch in Jesus noch vor einer Minute seinen Erlöser erkannt hatte.
"Ach, käme doch endlich einer...!"
Im Kerker führt der Großinquisitor ein langes Gespräch mit Jesus und beweist ihm, dass er kein Recht hat, auf die Erde zurückzukehren, um seiner Geschichte noch etwas hinzuzufügen.
Dostojewski bezieht sich hier auf die Versuchung Jesu in der Wüste. Im Matthäusevangelium fordert der Teufel Jesus auf zu beweisen, dass er wirklich Gottes Sohn ist und die Menschen erlösen kann. Dies soll er tun, indem er dem Volk Brot gibt, Wundertaten vollbringt und seine Macht demonstriert. Jesus antwortet ihm: "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht." Damit verweist er den Menschen auf seinen freien Willen und auf sein eigenes moralisches Empfinden von Gut und Böse. Dostojewskis Großinquisitor aber findet, dass Jesus die Menschen damit heillos überfordert, denn das Volk wolle wenig mehr als satt sein und gehorchen und und nicht groß nachdenken müssen - und sei mit dem freien Willen eigentlich nur in großes Elend geraten: Zu kompliziert das Leben, zu unübersichtlich die Zusammenhänge, zu groß unsere Unsicherheit. Jesus sagt zu alledem nichts. Statt dessen steht er auf und küsst den Greis auf seine blutleeren Lippen. Der wird von diesem Kuss bis ins Mark erschüttert und muss sich nun selbst entscheiden: Folgt er Jesus und dem freien Willen oder folgt er der Amtskirche und der Sicherheit des Gehorsams? Er entscheidet sich für diesen.
Diese Sehnsucht nach einem Heilsbringer, der die Dinge einfach in die Hand nimmt und richtet, ist in uns allen. Wir sind alle nur Menschen, wir kennen alle die Angst und das Gefühl der Schwäche vor der Übermacht.
Aber es wird keiner kommen! Wir müssen es schon selber machen.
Noch immer stehen wir genauso da wie zu Zeiten Jesu und müssen selber entscheiden, welchen Weg wir gehen. So gut oder so schlecht wir es eben vermögen. Und nur in uns selber werden wir die Zuversicht finden, richtig zu handeln. Das wird uns niemand abnehmen! Es wird keiner kommen und unsere Aufgabe lösen!
(Nachsatz von Conni Senne: Nein, es wird wohl niemand kommen und uns unsere Verantwortung für die Schöpfung abnehmen. Aber es kam mal einer, der uns einen Weg zeigte, wie es gehen kann. Der eine Gemeinschaft der Gleichen erweckte in einer zutiefst ungleichen Welt, der uns die Hoffnung schenkte auf eine bessere Welt für alle. Das kann Vorbild sein, kann Mut und Kraftquelle sein. Und in seinem Zeichen stehen wir hier – immer wieder aufs neue.)