Gottesdienst und Liturgische Nachtwache an der L277 (19./20. 7. 20)
Wir dokumentieren hier die Einladung zur Liturgischen Nachtwache, einen sehr persönlichen Erlebnisbericht und die Predigt. Ein Video des Gottesdienstes gibt es hier.
Liturgische Nachtwache an der L277 (Einmündung Immerather Strasse zwischen Keyenberg und Lützerath), Sonntag, 19.7.20, 20 Uhr
Kaum ist das unsägliche Kohleeinstiegsgesetz durchs Parlament gejagt, will RWE Fakten schaffen: Ab nächstem Montag, 5 h soll mit dem Abriss der L277, der Roten Linie zwischen Tagebau und den
bedrohten Dörfern, begonnen werden. Die Initiative „Die Kirche(n) im Dorf lassen“ beteiligt sich am breiten Protest gegen diesen Gewaltakt, der Schöpfung zerstört, die Verbindung zwischen den
Dörfern kappt und den Menschen dort den letzten verbliebenen Schutz vor den immer näher rückenden Baggern raubt. Wir rufen Euch auf: Kommt zur Demonstration (So, 12:30 Uhr), die von Keyenberg
entlang der bedrohten Strasse nach Lützerath führt.
Wir drücken unseren Protest aber auch in unseren ganz eigenen Formen aus und laden ein zu einer liturgischen Nachtwache an der L277: „Bleibet hier und wachet mir“. Sie beginnt mit einem
traditionellen Gottesdienst (20 Uhr), es schliesst sich ab ca. 21.30 Uhr eine Nachtwache an, mit Musik, Lesungen, Gesang, Fürbitten – und Ruhezeiten. Jede*r bleibt, so lange es passt, kann kommen
und gehen und wiederkommen!
Wir freuen uns auf einen anregenden Gottesdienst und eine besinnliche Nacht mit Euch!
Praktisches:
Bringt Sitzgelegenheiten, warme Kleidung, evtl. Isomatten und Decken mit – Essen und Getränke nicht vergessen! Und natürlich: Wir achten aufeinander und halten entsprechenden Abstand.
Falls sich unerwartet etwas ändert, schaut auf Twitter nach.
Eindrücke von der Liturgischen Nachtwache - und dem Morgen danach (19./20. Juli 20)
Es waren wirklich unglaubliche 24 Stunden: Zunächst die Demonstration von „Alle Dörfer bleiben“ entlang der bedrohten L277, auf der die Stimmung so fröhlich, so voller Hoffnung war, den Abriss noch abwenden zu können. Aber schon hier wurde deutlich: RWE – und die Polizei – macht ernst: Der Shuttle-Bus, der Menschen vom Bahnhof Hochneukirch zur Demo bringen sollte, wurde nicht durchgelassen. Das hat aber vor allem den jungen Menschen die Freude nicht verderben können: Mit viel Elan bogen sie – in Lützerath angekommen – von der Demoroute ab, an die „Kante“, also den Wall am Tagbau.
Auch der Gottesdienst am Abend wurde stark behindert: RWE hatte – entgegen der eigenen Ankündigung – die Strasse bereits Sonntag um 18 Uhr sperren lassen, so dass weder unser Lautsprecherwagen, noch die Besucher mit dem Auto durchkamen. Der Priester, der die Messe halten sollte, kam zu Fuß über die Felder, mit Messgewand und Hostien im Gepäck! Der Fahrer des Bündnismobils fuhr mutig durch die Absperrung (!) und gelangte so trotzdem zu uns und konnte nach einigem Verhandeln mit der Polizei dort auch bleiben. Der Gottesdienst konnte erst mit Verspätung beginnen, da die Besucher erst mehr als einen Kilometer Fußmarsch zurücklegen mussten. Vielen Älteren, die vor allem den Rückweg im Dunkeln scheuten, war das leider nicht möglich.
Trotz alledem wurde es ein bewegender Gottesdienst, der Zelebrant fand klare Worte für die Situation und in der Predigt hieß es ganz deutlich: „Das ist Gewalt, das ist böse!“ Zahlreiche Menschen empfingen die Kommunion, ein gemeinschaftliches Mahl, das uns alle wirklich in einem neuen Sinn zusammen brachte. Im Hintergrund der Mannschaftswagen der Polizei.
Dem Versuch der Polizei, die Veranstaltung nach dem Gottesdienst abzubrechen, widerstanden dann alle mit großem Mut und Einsatz: Minutenlang sangen wir „Bleibet hier“, blieben im wahrsten Sinne „standhaft“ - bis sich die Beamten dann dankenswerter Weise zurückzogen.
Und viele blieben, viele auch, die das gar nicht vorgehabt hatten.
Die Nacht verbrachten wir mit Gesang, Lesungen, Gebeten. Immer wieder unterbrochen von Phasen der Stille und Phasen des persönlichen Austauschs. Es war eine lange Nacht. Ein Frau aus Keyenberg hatte uns am Abend eine Marienfigur gebracht: Sie habe sie beim Ausräumen des Speichers gefunden und spontan gedacht, sie sei bei uns am besten aufgehoben. Und das stimmte: In ihrem Schutz fühlten wir uns völlig sicher!
Dann der Morgen: Die Bagger, die die Straße zerstören wollten, setzten sich in Lützerath und Keyenberg in Bewegung. Wir zogen als kleine Prozession Richtung Keyenberg, stießen dort auf die Bauarbeiten. Sofort bildete sich eine Polizeikette, wir standen davor, sangen und sahen zu, wie die Straße, auf der gestern noch hoffnungsfrohe Menschen gelaufen waren, aufgerissen wurde. Tränen flossen. Eine Frau sagte: Gestern hatten wir an einem Tag den Einzug nach Jerusalem und Getsemane, jetzt Golgatha.
Unsere kleine Gruppe wurde bald von weiteren Demonstranten verstärkt, jungen Leuten, die die Nacht irgendwo im Feld verbracht hatten, um früh am morgen die Strasse zu blockieren und den Abriss zu behindern. Einer von ihnen durchbrach die Polizeikette, stürmte auf den Bagger, kletterte nach oben und blieb dort sitzen. Fast drei Stunden lang konnte wenigstens dieser Bagger nichts mehr anrichten. Wir sangen „Bonum est confidere“!
Und das ist es, was ich mitnehme, was wir alle mitnehmen können aus diesen 24 Stunden auf der L277: Golgatha ist nicht das Ende – es folgt der Ostersonntag, die Auferstehung. Und die Sammlung der Jünger, die verängstigt, verzweifelt und resigniert auf dem Weg nach Emmaus waren, tatsächlich wohl flohen; dort aber die Auferstehung, von der sie bislang nur gehört hatten, tatsächlich erlebten.
PS: Teile der Strasse blieben bis Dienstag vormittag besetzt. Am Mittwochmorgen wird „Die Kirche(n) im Dorf lassen“ wieder an der L277 sein. Wir freuen uns über jede Unterstützung!